Gestern endete der 92jähre Weg meiner Großmutter auf dem Friedhof ihrer schweizerischen Heimatstadt. Wenn am Ende eines Lebens die Erinnerung der acht Kinder an „s’Mami“, der 22 Enkel an „s’Grosi“ (und 17 Urenkel gibt es auch noch) vor allem von deren übergroßen Güte handelt, dann hat zweifellos ein großartiger Mensch diese Welt verlassen. Sie hieß Agathe: „die Gute“.
In meinen Erinnerungen verbindet sich mit ihr, die ich aufgrund der räumlichen Entfernung kaum öfter als einmal im Jahr sah, aber auch ein Gegenstand, ein Raum, ein Ort. Denke ich „Grosi“, sitze ich unwillkürlich und ebenso unvermeidlich auf einer Eckbank hinter einem wachstuchbedeckten Esstisch in ihrer Küche. Hauptmerkmal dieser Eckbank: sie ist eng. Unbeschreiblich eng! Es glich einem Wunder, sie zu er- und den Tisch zu hinterklettern und saß man einmal dort, war an Aufstehen nicht mehr zu denken. Besonders zu Zeiten, als vor Kopf noch der Großvater saß – still und aufgrund seiner Schwerhörigkeit kaum der Konversation folgend, als die jüngsten Onkels und alten Großtanten noch im Haus lebten, weitere Familienmitglieder rasch vorbeischauten, weil „die Deutschen“ zu Besuch waren und so der kleine Tisch in der winzigen Küche von gefühlten 34 Personen bevölkert war … da beschlugen die Scheiben des Fensters und von der Eckbank gab es kein Entrinnen. Und die Zeit verrann mit ostschweizerischem Dialekt im Ohr, Hefezopf im Mund und einem Geruch in der Nase, dessen Quelle mir unbekannt, dessen Eigenheit jedoch unverwechselbar mit diesem Ort verbunden war.
Nirgends sonst auf diesem Globus könnte ich solch einen Ort mögen – doch diese Eckbank schien mir schon als Junge der Ort zu sein, an dem mein Leben irgendwie seine Wurzeln hatte. Als ob es irgendwann hier begonnen hätte. Als ob ich deshalb auch ab und zu zu diesem Ort zurückkehren müsse. Als ob hier Heimat wäre.
Ich war schon lange nicht mehr dort und ich werde nie wieder dort sein. Nicht mal ein Foto besitze ich von diesem Ort. Doch etwas ist geblieben und wurde mir gestern im Kreis der Großfamilie dieser Frau wieder bewusst: dieser eckbankliche Heimat-Ort erwuchs tatsächlich aus ihrer Liebe zu uns. Und diese Liebe kam aus ihrem Gauben. Sie lebte eine Frömmigkeit, die nicht die meine ist. Sie sprach auf eine Weise von Jesus, wie ich es nicht tue. Hätten meine Großmutter und ich jemals über Theologie diskutiert … Gott bewahre! Hat er ja auch. Aber ihr tiefer Glaube äußerte sich in einer Güte und Menschenfreundlichkeit, die ihres gleichen sucht. Die Falten im Gesicht eines alten Menschen verraten manchmal viel über den Charakter. Meine Großmutter hatte Falten vom Lächeln und Dankbar-sein. Jahrzehntelanges Arbeiten hatten ihren Rücken gebeugt, doch ein Leben lang mit zusammengekniffenen Augenwinkeln Leute wie uns anlächeln hatte ihr die Güte Gottes ins Gesicht gezeichnet.
Es gab noch einen Gegenstand von Bedeutung in ihrer Wohnung. Eine Kommode und auf ihr unzählige Fotos all ihrer Nachkommen und deren Partner. Oft stand ich als Junge davor und betrachtete die Bilder. Schon deshalb, weil man in diesem Wohnzimmer sonst nicht viel anderes tun konnte. Diese Menschen – also wir – waren ihr tatsächlich das Wichtigste in ihrem Leben. Ich wüsste nicht, was sie sonst noch Wertvolles „besessen“ hätte, außer „ihren Jesus“, ihre Bibel und ihre Familie. Jedes Jahr fand sich pünktlich Geburtstagspost von ihr in unserem Briefkasten und es wäre möglich, das wahr ist, was manche vermuten: dass sie täglich für jeden dieser ihrer Lieben gebetet hat. Täglich.
Ich frage mich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, hätte sie das nicht getan.
Danke, Grosi.
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